Investieren oder spekulieren?
An den Aktienmärkten hat die Ausrichtung auf die relative Performance besorgniserregende Ausmaße angenommen. Anstatt sich über eine gute absolute Performance zu freuen, zeigen sich Anleger enttäuscht, wenn sie feststellen, dass sie nicht so gut abgeschnitten haben wie ein Referenzindex, von dessen Existenz sie noch vor wenigen Jahren kaum etwas wussten, dem sie aber heute zusprechen, die Weisheit gepachtet zu haben.
All dies hat einen großen Einfluss auf das Verhalten professioneller Fondsmanager. Ihre Entscheidungen werden heute zunehmend von der Angst getrieben, schlechter als ein Index abzuschneiden und ihre Kunden zu verlieren, anstatt auf ihren tatsächlichen Überzeugungen zu beruhen. Viele Manager, die sich selbst als aktiv bezeichnen, ziehen es in Wirklichkeit vor, sehr nahe an ihrem Referenzindex zu bleiben. Und solange diese Indizes steigen, sind die Risiken, die sie mit diesem Vorgehen eingehen, unsichtbar. Das aktuelle Umfeld ähnelt in dieser Hinsicht dem zu Beginn dieses Jahrhunderts.
Wir erleben also ein neues Anlageparadigma, das von der Angst, den Aufwärtstrend zu verpassen, und nicht von der Analyse der Fundamentaldaten geprägt ist. Während Anlageentscheidungen in der Theorie rational getroffen werden sollten, sorgt die Demokratisierung der Finanzwelt dafür, dass sie in der Praxis immer häufiger auf der Grundlage von Emotionen getroffen werden. Und die sozialen Netzwerke verstärken dieses Phänomen noch. All dies gibt Anlass zur Sorge um die Stabilität der Finanzmärkte, die zeitweise Kasinos ähneln, und um die Stabilität des Finanzsystems insgesamt.
Die Bedeutung, die die passive Verwaltung erlangt hat, verstärkt dies nur noch. Passives Management ist in Bezug auf die Bewertung weitgehend agnostisch, wobei das Ziel darin besteht, Aktien proportional zu ihrem Gewicht in einem Index zu kaufen. Und da in vielen dieser Indizes (angefangen beim S&P 500) das Gewicht der Wertpapiere durch ihre Marktkapitalisierung (Anzahl der Wertpapiere multipliziert mit dem Kurs) bestimmt wird, ziehen die Wertpapiere, die am stärksten gestiegen sind, das meiste Kapital an, was das Risiko einer Überbewertung mit sich bringt, während bei vernachlässigten Wertpapieren das Gegenteil der Fall ist.
Auf die USA entfallen etwa 20 % des weltweiten Bruttoinlandsprodukts, aber der US-Markt macht etwa 70 % des globalen Aktienindex aus. Ein solches Ungleichgewicht gab es seit Ende der 1980er-Jahre nicht mehr, als Japan weniger als 10 % des BIP, aber fast 50 % des Weltindex ausmachte. Der US-Markt ist zu einem so wichtigen Teil des Weltindex geworden, dass die wichtigste Frage, die sich ein Aktienanleger stellen muss, ist, ob er ihn über- oder untergewichten soll. Und insbesondere, ob man die großen Technologiewerte über- oder untergewichten soll.
Gewichtung des US-Marktes im globalen Index
Quelle: Factset, MSCI, Jefferies
Die üblichen Argumente für den US-Markt drehen sich um den "amerikanischen Exzeptionalismus". Die Idee dahinter ist, dass die USA über einige grundlegende Vorteile verfügen, wie niedrigere Energiekosten, einen sehr großen Inlandsmarkt und die Tatsache, dass sie die Reservewährung und den Welthandel kontrollieren, wodurch sie keinen Zwang haben, ihre Defizite zu finanzieren. Hinzu kommt, dass US-amerikanische Unternehmen die digitale Wirtschaft zu dominieren scheinen. In jüngster Zeit wird zudem erwartet, dass die Wahl von Donald Trump eine neue Welle von Deregulierungen und Steuersenkungen mit sich bringt, die dem US-Markt zugutekommen.
Tatsache ist jedoch, dass seit 2017 die Outperformance des US-Marktes durch seinen Bewertungsanstieg erklärt wird und nicht durch ein deutlich höheres Gewinnwachstum als in anderen Regionen (genauso wie das höhere Wirtschaftswachstum in den USA vor allem aus einem deutlich höheren Haushaltsdefizit resultiert). Daraus folgt, dass auf der Grundlage der meisten Bewertungskennziffern die Prämie des US-Marktes heute historisch hoch ist. Ein weiterer Punkt, der in Bezug auf die Performance des US-Marktes zu beachten ist, ist, dass sie auf eine sehr begrenzte Anzahl von Aktien zurückzuführen ist. Diese Enge lässt sich sogar im Technologiesektor feststellen. Seine Outperformance im vergangenen Jahr beruhte im Wesentlichen auf einem einzigen Wert: Nvidia.
Die Outperformance des US-Marktes verdeutlicht das bekannte Phänomen, dass "die Märkte die Nachrichten machen". Dabei werden die Elemente, die den Anstieg verursacht haben, herangezogen, um eine weitere Aufwärtsbewegung zu rechtfertigen. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Technologiewerte. Sie schienen 2022 ihren Glanz zu verlieren, bevor das Thema Künstliche Intelligenz ihnen eine neue Dynamik einhauchte. Es besteht kein Zweifel daran, dass die großen US-amerikanischen Technologiewerte insgesamt sehr gute Unternehmen sind. Sie verfügen über Wettbewerbsvorteile, erzielen wiederkehrende Umsätze und eine hohe Rendite auf das eingesetzte Kapital. Allerdings sind sie heute sehr teuer und ihr Gewinnwachstum beginnt, sich zu verringern. Mit der Cloud und der Künstlichen Intelligenz beginnen diese Unternehmen zudem, stärker miteinander zu konkurrieren, während sie bisher in ihrem Kerngeschäft ein Quasi-Monopol hatten.
Es gibt zahlreiche Beispiele, die die Absurdität der gegenwärtigen Situation belegen: Die Marktkapitalisierung der 15 größten US-Unternehmen entspricht fast der der europäischen, japanischen und Schwellenländermärkte zusammen, die 27 größten Halbleiterunternehmen haben heute eine Gesamtmarktkapitalisierung, die die der Energie- und Materialsektoren zusammen übersteigt, die Marktkapitalisierung von Tesla ist in zwei Monaten um 850 Milliarden USD gestiegen, was ungefähr der Gesamtmarktkapitalisierung der zehn nachfolgenden größten Autoproduzenten entspricht.
Die 15 größten US-Unternehmen repräsentieren fast so viel wie die Märkte Europas, Japans und der Schwellenländer zusammen
Quelle: Gavekal Research/Macrobond
Im Jahr 2000 wurden Unternehmen wie Cisco Systems oder Sun Microsystems mit mehr als dem zehn- oder sogar 20-fachen ihres Umsatzes gehandelt. In den folgenden drei Jahren verlor ihr Kurs zwischen 75% und 90%, und der Chef von Sun sagte Folgendes: „At 10 times revenues, to give you a 10-year payback, I have to pay you 100% of revenues for 10 straight years in dividends. That assumes I have zero cost of goods sold, which is very hard for a computer company. That assumes zero expenses, which is really hard with 39,000 employees. That assumes I pay no taxes, which is very hard. And that assumes you pay no taxes on your dividends, which is kind of illegal. And that assumes with zero R&D for the next 10 years, I can maintain the current revenue run rate. Do you realize how ridiculous those basic assumptions are?” Heute ist die Zahl der Aktien, die zu mehr als dem Zehnfachen ihres Umsatzes gehandelt werden, in der Halbleiterbranche wieder sehr hoch.
Es ist wichtig zu beachten, dass der Kauf eines Indexes nicht unbedingt eine schlechte Idee ist. Wenn die Bewertung eines Marktes angemessen ist, man an die Aussichten dieses Marktes glaubt, aber nicht unbedingt über die Ressourcen verfügt, um einzelne Aktien auszuwählen, kann der Kauf des Indexes eine Lösung sein, die zudem noch günstig ist. Als Beispiel könnte man heute den chinesischen Markt nennen. Langfristig besteht jedoch eine enge Korrelation zwischen Bewertung und Rendite. Und das Bewertungsniveau des US-Marktes ist heute so hoch, dass die Rendite, die ein Anleger, welcher passiv den Index kauft, vernünftigerweise erwarten kann, sehr niedrig ist. Die hohe Bewertung des US-Marktes lässt sich jedoch durch das übergroße Gewicht einer begrenzten Anzahl von Wertpapieren erklären. Mit anderen Worten: Der Index ist zwar teuer, aber viele US-Werte sind es nicht.
Damit sich eine Blase fortsetzt, muss sie immer mehr Kapital anziehen. Und es ist durchaus möglich, dass passives Management weiter an Bedeutung gegenüber aktivem Management gewinnt. Dennoch sehen wir zumindest drei Risiken für den US-Technologiesektor und damit für den Markt insgesamt:
- Potenzielle Enttäuschungen im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz, vor allem angesichts der hohen Investitionsausgaben der großen Technologieunternehmen in diesem Bereich.
- Eine deutliche Verringerung der Liquidität. Während die Märkte seit Ende 2022 von reichlich Liquidität profitiert haben, wird sich die Situation ab 2025 zu ändern beginnen, da ein Großteil der öffentlichen und privaten Schulden refinanziert werden muss. Dies ist ein Risiko für alle Märkte (zumindest die westlichen), aber der US-Markt scheint am stärksten gefährdet zu sein, da er am meisten von der steigenden Liquidität profitiert hat.
- Eine Abschwächung des US-Dollars. Die Korrelation zwischen einem steigenden US-Dollar und einer überdurchschnittlichen Wertentwicklung von US-Wachstumswerten ist derzeit sehr hoch. Ein starker Dollar scheint jedoch mit dem Ziel der Trump-Administration, die USA zu reindustrialisieren, unvereinbar zu sein. So hat Donald Trump mehrfach erklärt, dass die US-Währung überbewertet sei. Die aktuelle Situation ähnelt der zu Beginn seiner ersten Amtszeit.
USD-Index 2024-2025 gegenüber USD-Index 2016-2017
Quelle: Bloomberg – The Mad King
Die Kombination aus einem Umfeld, das für Aktien spricht, und teuren Aktienindizes spricht also eindeutig für ein aktives Management, auch wenn es illusorisch ist zu glauben, dass ein solches Management dauerhaft eine bessere Performance erzielen kann, solange der Trend hin zum passiven Anlegen anhält. Ein Anleger hat heute die Wahl, entweder auf die Momentum-Karte zu setzen und die damit verbundenen Risiken in Kauf zu nehmen, oder sich für eine fundamental ausgerichtete Strategie zu entscheiden, mit dem Risiko, zumindest kurzfristig hinter den Indizes zurückzubleiben.
Dieses Dokument wurde von BLI - Banque de Luxembourg Investments („BLI“) mit größter Sorgfalt und bestem Wissen und Gewissen erstellt. Die in dieser Veröffentlichung geäußerten Ansichten und Meinungen stellen jene der Autoren dar und nicht die von BLI. Die in dieser Publikation veröffentlichten Finanz- und Wirtschaftsinformationen dienen ausschließlich der Information und basieren auf Basis der Informationen, die zum Publikationstermin bekannt waren. Diese Informationen stellen keine Anlageberatung, -empfehlung oder -aufforderung zu investieren noch einer rechtliche- oder steuerliche Beratung dar. Alle Informationen sollten mit größter Sorgfalt verwendet werden. BLI übernimmt keine Haftung für die Richtigkeit, Verlässlichkeit, Aktualität oder Vollständigkeit dieser Informationen. BLI kann nicht haftbar gemacht werden für die Ergebnisse dieser Informationen oder Entscheidungen auf Basis dieser Informationen die eine Person, unabhängig, ob BLI-Kunde oder nicht, trifft: diese Person bleibt allein für ihre eigenen Entscheidungen verantwortlich. Interessierte Personen müssen sicherstellen, dass sie die mit ihren Anlageentscheidungen verbundenen Risiken verstehen, und von einer Anlage absehen, bis sie zusammen mit ihren eigenen professionellen Beratern die Eignung ihrer Anlage insbesondere in rechtlicher, steuerlicher, bilanzieller Hinsicht und bezüglich ihrer konkreten finanziellen Situation sorgfältig abgewägt und geprüft haben. Es wird darauf hingewiesen, dass die Wertentwicklung eines Finanzinstruments in der Vergangenheit keine Garantie für die zukünftige Entwicklung ist.